Ich stimme dem Eingangsposting aus mehreren Gründen nicht zu.
Zunächst einmal fasse ich das Posting als allgemeine Gesellschaftskritik, exemplarisch an der Musik angeführt, auf, die heutige Gesellschaft ist nicht mehr, bzw. kaum noch in der Lage, sich in ein Thema, ein Hobby oder eine Sinneswahrnehmung dermaßen zu vertiefen, wie es ehemalige Generationen geschafft haben. Die Gesellschaft sei so sehr sinnüberflutet, daß sie es gar nicht mehr aushielte, sich auf einen Sinn zu beschränken, so daß in ihrer Wahrnehmung die Tiefe verloren ginge.
Man hätte den Text genauso gut über das "richtige" Lesen schreiben können, darüber, daß Menschen die Bücher nur noch lesen, aber nicht mehr auf einer sensuellen Art verinnerlichen können. Oder man hätte den Unterschied zwischen den Genießerkinogänger und dem TV-Zombie herausgestellt.
Diese Kritik halte ich aber als grundweg fehlerhaft. Zum einen werden hier Äpfel mit Birnen verglichen. Denn nehmen wir diese fiktive Barbara her, so gehört diese, als Person, welche sich ein Grammophon und Schallplatten mit kulturell anspruchvollem Inhalt leisten konnte, sicherlich zu einer gehobenen Gesellschaftsschicht. Der Zugang zur Musik ist einer größeren Masse von Menschen glücklicherweise möglich geworden. Dieses bedeutet natürlich aber auch, daß hier eine Masse an Menschen hinzugekommen sind, die für sich selbst nicht den gleichen Anspruch an die Musik stellen, wie es z.B. Barbara getan hätte. Jene Menschen hätten zu Barbaras Jugendzeit jedoch aller Wahrscheinlichkeit weder die Zeit, noch die Möglichkeiten gehabt, Musik zu genießen.
Um also einen passenderen Vergleich zwischen Barbara und einer gleichgestellten Person heutiger Zeit zu finden, müßte Barbara eher mit einer Person verglichen werden, die zum Hobby hat, sich Opern oder zumindest Musicals anzusehen, also ein Hobby ausübet, welches in der Gesellschaft nicht der Masse zur Verfügung steht, bzw. die Masse nicht interessiert. Und da sieht die Sache dann schon anders aus, wer regelmäßig Musicals besucht, von dem kann auch angenommen werdne, daß er diese Musicals mit allen Sinnen und voller Aufmerksamkeit genießt.
Aber selbst wenn ich mich auf die Kernaussage: Die Menschen hören Musik heute nicht mehr so intensiv, wie sie es früher getan hätten, beschränke, möchte ich hier immer noch widersprechen. Richtig ist, es ist heute um einiges leichter, sich von Musik dauerberieseln zu lassen, teilweise ist es sogar schwer, dem zu entkommen (man denke da nur an den Weihnachtseinkauf, z.B.). Und Musik ist für viele als Nebenbeschäftigung immer mit dabei, sei es als Radiosendungen, als MP3-getöne oder das im Hintergrund laufende MTV-Programm. Meiner Meinung nach ist diese Art, Musik aufzunehmen, jedoch nur eine zusätzliche Beschäftigung.
Menschen hören heutzutage durchaus auch sehr bewußt Musik und können durchaus noch durch Musik innerlich sehr bewegt werden. Dies sieht man zum einen an etlichen Subkulturen, die sich allein aus ihrer Zusammengehörigkeit zur Musik entwickelt haben und den Grundton der Musik aufgegriffen haben. So kommt es sicherlich nicht von ungefähr, daß die Rapper-Szene wie ein Haufen jugendlicher Zuhälter wirkt, sich deren Musik um das Überleben auf der Straße und Gewalt dreht, während die Emo-Szene eher an selbstmordgefährdete, homoerotische Satanisten erinnert und ihre Musik über Einsamkeit und den Weltenschmerz zu berichten weiß. Wer von der Musik nicht berührt wird, hätte auch keinen Grund, sich der Szene zugehörig zu fühlen.
Ein anderes Beispiel: Konzerte. Wer kennt sie nicht, die Emotionen, welche auf Konzerten überschwappen, den ekstatischen Zustand, den man in der Menge erreicht, wenn man jedes Lied des Sängers auswendig mitsingt, den Chor der Zuhörer, sobald die Musiker ihre Zuhörer in die Aufführung mit einbeziehen. Ich denke, gerade auf Konzerten können die Menschen auf eine Art und Weise in die Musik eintauchen, welche Barbara, die trotz des 49er Baujahrs in ihrer Jugend ja nicht zum Elvis-Fan wurde, (und somit die Chance gehabt hätte, die Massenhysterie um diesen Personenkult mitzuerleben) sondern die Klassik bevorzugt, wahrscheinlich nicht ansatzweise miterlebt hatte.
Und schließlich zu diesen bösen, bösen MP3-Spielern (Walkmen oder meinetwegen auch mobilen Schallplattenspielern
): Ich empfinde gerade beim Hören über diese nicht, daß die Musik für mich dann nebensächlich wäre. Wenn ich einen solchen nutze, dann mit genau den Liedern, die mich innerlich bewegen (meiner hätte zwar Radiomodus, ich nutze das Radio aber nicht). Und gerade durch den Umstand, daß durch die Ohrerbsen die Musik nicht von außen an mich heranzudringen scheint, sondern im innernen meines Kopfes zu sein scheint, kann ich sehr tief in die Musik eintauchen. Meine intensivsten Musikerlebnisse hatte ich bei einsamen Nachtspaziergängen mit MP3-Spieler.